on sight
Lineal - (k)ein Traum

"Ihr wollt es also wirklich angehen?" Andrés Frage entbehrt nicht eines gewissen skeptischen Untertons, als wir bekanntgeben, wo wir den Vormittag lang zu finden sein werden. Wir, das sind Michael, mein Seilpartner für diesen Urlaub, Joe, ein alter Kumpel, mit dem wir uns an diesem Samstag verabredet haben, und ich. Wir stehen am Schießgrundparkplatz, dem Startpunkt für Touren in die Schrammsteine.
Die Frage verhallt für einige Sekunden unbeantwortet, bis ich mich zu einem schüchternen "ich schau's mir halt mal an" durchringen kann - meiner Standardantwort, wenn ich mir meiner Sache nicht sehr sicher bin. Jörg murmelt irgend etwas von "nu glaar" und verrät mit seinem breiten Grinsen seine Vorfreude auf das erhoffte Spektakel weiter Flüge...

Ich will es also wirklich angehen? Auf dem Weg durch den Schießgrund hallt die Frage in meinem Kopf nach. Wie oft habe ich mir diese Frage so oder so ähnlich schon selbst gestellt und doch immer mit einer Verneinung beantwortet? Keine Form, keine Nerven, schlechtes Wetter... Doch heute gibt es keine Ausflüchte mehr. Gestern abend fiel die Entscheidung. Das Lineal am Meurerturm soll es sein.
Seit Jahren schon spukt der Gedanke, diesen neuzeitlichen Klassiker zu klettern, in meinem Kopf herum. Ich weiß, daß ich gut drauf bin und dennoch steigt in mir wieder diese Anspannung empor, die ich nur hier in Sachsen erlebe, wenn es an einen der großen Wege geht. Es ist wie eine Art Lampenfieber - eine merkwürdige Mischung aus Angst und Zuversicht, Unsicherheit und Kletterwillen, die mir schon beim Aussteigen aus dem Auto den Puls hochfährt und die mich erst wieder losläßt, wenn ich den ersten Zug geklettert habe.

Nach fünfzehn Minuten Wanderung durch die feucht-kühlen Gründe stehen wir unter der Wand. Der Anblick ist jedesmal aufs Neue beeindruckend, beinahe umwerfend. Fast fünfzig Meter hoch und hausmauerartig steil wächst die Westwand des Meurerturms aus dem Sandboden. Neben einem überdachten Querband in zehn Metern Höhe sind zwei parallele Handrisse, die sich ungefähr in Wandmitte im senkrechten Fels verlieren, die einzigen markanten Strukturen. Die Risse vermitteln die zwei klassischen Anstiege: Den linken Riß empor und dann rechtshaltend durch die Wand und um die Kante herum zum Gipfel stieg 1949 Harry Rost und eröffnete damit den ersten Weg durch diese Wand: Westwand, VIIIb (UIAA 7). Bis 1970 dauerte es, bis sich schließlich Bernd Arnold des rechten Risses annahm und von dessen Ende, am 1. Ring der klassischen Westwand vorbei, schnurgerade durch die Wandmitte zum Gipfel stieg: Lineal, IXa (7+/8-).

Doch wie so oft in Sachsen liegt auch hier die Schwierigkeit nicht allein in der Schwierigkeit. Zwei Ringe auf fünfzig Metern, der Erste davon in knapp dreißig Metern Höhe, die Schlüsselpassage rund 8m über der letzten Sicherung. So sehen die nüchternen Fakten aus. OK, der Handriß und die Wand bis zum ersten Ring sind "nur" VIIc, doch lassen sich auch gute Schlingen legen? Wie schwer ist die Wand nach dem Zweiten Ring wirklich? Wie sieht der Einstieg in die Ausstiegsrinne aus? Vor diesen typisch sächsischen Reibungsrinnen-Ausstiegen habe ich am meisten Respekt. Gedanken an einen Fünfzehn-Meter-Normsturz versuche ich im Rucksack am Wandfuß zurückzulassen.

Die ersten Meter sehen unangenehm aus: algig grün und von einem "saugenden" Handriß keine Spur. Statt dessen gibt es einen breiten aber seichten Einschnitt. Zum Glück ist der Fels trocken. Mit den Kanten als Seitgriffen und den Füßen in dem seichten Spalt schiebe ich mich vorsichtig zum Ansatz des Handrisses hoch. Nach drei Metern versenke ich die rechte Hand im Riß. Nun kann es richtig losgehen. Mit allen Vieren im Riß steige ich höher. Eine halbwegs gute Knotenschlinge besänftigt meine Nerven. Langsam gewöhne ich mich wieder an den statischen Rhythmus des Rißkletterns.
Dann das Querband: Sitzen, Schnaufen, nach unten Schauen. Doch gleich der bange Gedanke an die Absicherung. Spätestens hier muß was Solides eingebaut werden! Auf dem Rücken unter dem Dach liegend suche ich nach einer Sanduhr oder einer Möglichkeit, eine Knotenschlinge unterzubringen. Ganz tief hinten werde ich fündig. Rundum begeistern kann das alles nicht, aber es ist weit besser als nichts.

Weiter! Vorsichtig richte ich mich auf dem Band auf und schaue über das Dach auf die nächsten Meter. Die Wand legt sich leicht zurück und der Riß neigt sich etwas nach rechts. Dafür gibt es Griffe in der Wand, richtige Löcher! Eine echte Wohltat für die Füße. Nach ein paar Metern fädele ich eine dicke Sanduhr. "Die is' wie'n Ring", beurteilen die Sachsen solche Sicherungsmöglichkeiten.
Die Wand nach dem Riß ist dann auch kein Problem mehr. Der Erste Ring kommt in Sicht. Noch drei Meter, noch zwei, noch einer. "Stand! Aussichern!"
Ausatmen! Aufatmen! Ich mache es mir so gut es geht am Ring bequem und hole Michael nach. Der Blick wird frei für die Landschaft ringsum. Auch die Wanderer auf dem Elbleitenweg werden nun durch unsere Seilkommandos auf uns aufmerksam. Der Blick nach oben läßt nur erahnen wie weit es noch bis in die Ausstiegsrinne ist. Auf den nächsten Metern wird sich entscheiden, was heute überwiegt, Angst oder Zuversicht, Unsicherheit oder Kletterwillen?

Michael macht sich mit einer Bandschlinge am Standring fest und bindet sich aus, damit mich Joe auf den nächsten Metern bis zum zweiten Ring von unten sichern kann. Faktor-2-Stürze müssen nun wirklich nicht sein!
Der zweite Ring ist schnell erreicht. Jetzt wird es ernst. Übergangslos wird die Wand kompakt. Statt der Platten, die weiter unten manchmal wie kleine Eisenbahnpuffer an der Wand kleben und tolle Griffe bieten, gibt es hier nur noch kleine Schalen und Leisten. Der Blick nach oben ist nicht gerade beflügelnd: Eine völlig gleichförmige, kohlrabenschwarze Wand ohne irgendwelche ausgeprägten Orientierungspunkte. Allein ein paar kleine weiße Ausbruchstellen von weggebröselten Trittkanten und der kurze Stemmkamin unter dem Gipfel geben die Richtung vor. Wie weit ist das noch bis zum Kamin? 8 Meter, 10 Meter? Ohne weitere Zwischensicherung...

Die ersten Schalen sind besser als erwartet. Hoffentlich bleibt das so! Ich schalte alle Gedanken ab. Sehen, Tasten, Bewegen - immer im Fluß bleiben. Im magnesiafreien schwarzen Sandstein gehören Erfahrung und Glück dazu, schnell die guten Schalen aus dem Meer der Nieten herauszufischen. Meine Wahrnehmung reduziert sich auf die umliegenden vier Quadratmeter Fels. Kein Gedanke an den Ring. Die Kletterei ist eigentlich nicht sonderlich kompliziert - nur die Griffleisten werden allmählich immer kleiner.
Zur Orientierung riskiere ich zwischendurch einen Blick nach oben. Zum Glück scheint es keine garstige Reibungsrinne zu geben - eher ein ansetzender Kamin. Eigentlich muß ich nach rechts aber links lockt ein guter Seitgriff zum kurzen Ausruhen. Weiter rechts sehe ich ein schlüssellochartiges Loch. Über Kreuz daran vorbei quere ich hinüber zum Kaminansatz. Puh, das ging ja ganz gut! Doch jetzt droht der Einstieg in den Kamin. Bisher waren die Tritte bestens - klein zwar, aber immer schön scharfkantig. Nun wird klar, daß ich an zwei, drei Reibungstritten doch nicht vorbei kommen werde. Schlagartig machen sich Puls und Blutdruck bemerkbar. "Bewegen!", schießt es mir durch den Kopf, "Nicht zum Ring runterschaun!" Ich bin ganz bei mir. Die rechte Hand auf einem großen runden Seitgriff, die Füße auf Reibung, schiebe ich den linken Arm in die Kaminrinne. Nur jetzt nicht hastig werden! Der Grund des Kamins ist eben. Keine Reibung - was ein Segen! Wenn ich da drin bin, ist alles vorbei. Ich zwinge mich zur Ruhe. Noch einen Schritt mit rechts, den linken Fuß in den Kamin und hinein. Uuaaah...

Ich verkrieche mich zitternd gleich nach hinten, in das Innere des Kamins - nur weg von der Kante! Die dunkle Enge vermittelt Geborgenheit. Mit tiefen Atemzügen kann ich mich wieder beruhigen. Noch ein paar Meter Kaminschrubben, dann stehe ich auf dem Gipfel.
Ich möchte irgend jemanden umarmen - es ist aber niemand da. Ich genieße den Blick auf die Felsenwelt um mich herum - tief unter mir das Elbtal.

Es sind diese Momente der Entspannung und des Glücks, die ich beim Klettern suche und eigentlich nur hier in der Sächsischen Schweiz finde. Es ist das Glück, zu erfahren, komplexen Anforderungen gewachsen zu sein und mir meines Könnens selbst bewusst zu sein - dieses Mal. Es sind diese Kletterrouten, die mich so ganzheitlich fordern, die mir vom totalen psychischen Blackout bis zu traumwandlerischem Klettern in vollkommener Ausgeglichenheit die stärksten Erlebnisse geben.

Hier möchte ich sein!
Das ist Klettern!

Christoph Deinet, 1998



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